herzförmiges Blatt Stechwinde

Aus Torre Guaceto mit Liebe

Lieber Naturfreund!

Ich bin hingerissen

Verzeih mir, wenn ich Dir unbekannterweise und unaufgefordert schreibe. Wir kennen uns nicht, aber meine Gefühle für Dich und Deinesgleichen sind seit vielen Monaten heiß entflammt und zwingen mich nun, meine ganze Zuneigung, ja ich möchte es Liebe, nein sogar Leidenschaft nennen, endlich zu Papier zu bringen.

Noch vor einem Jahr hätte ich mich selbst schnellstens in eine Spezialklinik eingewiesen, hätte ich das vorausgesehen: ich halte mich stundenlang an der Küste nördlich von Brindisi auf, krieche durchs Gebüsch, kniee und hocke auf der Erde und fotografiere in vollem Ernst und mit Freude eine weibliche, sterile Ameise. Ich halte inne und beobachte minutenlang grünäugige Wespen. Ich erquicke mich an der silbrigen, zarten Schönheit eines weißlichen Wegeriches und berausche mich an dem Klang seines lateinischen Namens: plantago albicans – wie wundervoll!

Aber jetzt ist es geschehen, und ich gestehe, dass mich ein botanischer Spaziergang mit einem kompetenten Umweltfachmann in nie gekannte Begeisterung versetzt, ja ein derart sinnliches Erlebnis ist, dass ich zart erröte.

Verzaubert von einem Naturschutzgebiet

Ich sehe, Du bist verwirrt und verstehst nicht. Vergib mir, vielleicht sollte ich Dir erklären, welcher Ort und welche Begebenheiten mich derart entzückt haben, dass ich befürchte – nein hoffe! – davon lebenslänglich gezeichnet zu sein:

Zwei Worte, nur zwei Worte, aber in diesen fünf Silben liegen Jahrtausende faszinierender Geschichte. Achtzehn schützenswerte Habitate (ich gestehe, ich musste das Wort im Plural nachschlagen). Kristallklares Meer, verzauberte Waldwege. Strände voll winziger Muscheln, das Surren von elektrischblauen Libellen und das Gequake von unsichtbaren Fröschen. Der Duft von Wind und Weite und eine botanische Schatzkiste mit über 600 Arten verschiedener Pflanzen.

Torre Guaceto.

Ist nicht der Name schon Musik allein? Ein mittelalterlicher Turm und die Quelle süßen Wassers, die sich in die flache Liebesbucht der Fische ergießt, sind die Paten dieses herrlichen Fleckchens Erde.

Torre Guaceto - Küstenwachturm 16. Jh

Gua-ce-to, Dir ist sofort klar, dass dieser weiche Klang arabischen Ursprungs ist, nicht wahr? Du hast recht, Gawsit war das Wort, das man auf einer Karte aus dem 13. Jahrhundert fand und das den Ort der Süßwasserquelle verzeichnet.

Ich verliere mich in der Vergangenheit… aber Geschichte ist eine andere Geschichte. Noch hat es kein Historiker geschafft, mich so hinzureißen wie Du, lieber Naturfreund.

Nur zu gerne kehre ich mit meinen Gedanken zurück zu der unglaublichen Vielfalt, der Romantik, der Poesie, der Schönheit und dem Reichtum der Natur. Voll erfassen kann man diese Herrlichkeit keinesfalls mit dem ersten Blick, bei nur einem Besuch.

Nein, auch mir erschließt sich diese geheimnisvolle Welt nur ganz allmählich, Stück für Stück, als müsste ich mich erst würdig erweisen, die tieferen Weihen der Kenntnis erhalten zu dürfen.

Der Zauber der Pflanzenwelt des Mittelmeers

Ich möchte Dir von jahrhundertealten Olivenbäumen erzählen, deren knorrige Stämme aussehen wie Fabelwesen. In manche kann man sich hineinstellen wie in einen uralten silbergrauen Zaubermantel.

Manche winden sich um sich selbst oder neigen sich so zueinander, als würden sie einen geheimnisvollen Tanz aufführen.

Ich möchte Dir von den Wildblumen erzählen, die die rote Erde der Olivenhaine schmücken: der intensiv rote Klatschmohn, die schöne Malve in ihrem schimmernden Violett, das satte Rosa der Skabiose, das leuchtende Hellblau der Wegwarte.

Allein schon diese „gewöhnlichen“ Blumen haben ihre eigene wilde Schönheit und jede birgt ein kleines Geheimnis, das kundige Apulier zu lüften wissen:

Dass die Blätter des Klatschmohns hervorragend mit Ampfer harmonieren. Dass die verschiedenen Malvenarten sich sehr gut in Tees und Likören machen. Dass die Skabiose Substanzen enthält, mit denen man früher die Krätze behandelt hat. Dass die Wegwarte nicht nur der Lieferant für den Nachkriegs-Ersatzkaffee war, sondern dass deren junge Blätter essentieller Bestandteil des apulischen „Fave e Fogghie“ (Saubohnenpüree mit gedünstetem Wildgemüse) sind.

Farben und Duft der Macchie

Richtig faszinierend wird allerdings die Pflanzenwelt, wenn man in der Riserva Torre Guaceto auch die unauffälligeren und selteneren Arten gezeigt und erklärt bekommt. Bei meinen ersten Initiations-Rundgängen lernte ich zunächst die wichtigsten Macchie-Pflanzen kennen.

Jede dieser Pflanzen hat eine ganz eigene Strategie entwickelt, mit hohen Temperaturen, starken Winden und extremer Trockenheit zurecht zukommen: kleine harte, wachsartige, gefiederte oder behaarte Blätter zum Beispiel, oder gar der völlige Abwurf bzw. das Vertrocknen allen Grüns im Sommer.

Als Macchiapioniere sind die wunderschönen Zistrosen mit die ersten Pflanzen, die eine Macchiavegetation entstehen lassen, beispielsweise nach einem Brand. Pink leuchten die Blüten der kretischen Zistrose mit ihren immer etwas zerknitterten seidenpapierartigen Blütenblättern. Elegant und zurückhaltend wirkt dagegen die Montpellier-Zistrose mit ihren schlichten weißen Blütenkelchen, zugänglicher und ebenfalls in bräutlichem weiß blühend die salbeiblättrige Zistrose. Zu Füßen der Zistrose leuchten im Frühjahr wie Edelsteine das Rot und Creme des Cytinus ruber – wie wunderschön so ein kleiner Schmarotzer wie der Zistrosenwürger sein kann…

Als nächste Stufe der Macchiabildung kommen kleine buschige Sträucher, wie der unglaublich intensiv duftende Kopfige Thymian (Thymus capitatus oder Thymbra capitata).

Exkurs: Wo waren die Dichter, als die Botaniker die Pflanzen benannten?

An dieser Stelle muss ich, bitte vergib, Dir und Deinen Botanikerfreunden einmal wirklich die Ohren lang ziehen: was denkt Ihr Euch denn eigentlich bei der Namensvergabe? Spielt denn der Wortklang gar keine Rolle?

Denkt Ihr denn nie an die Demütigung, die Ihr einer Pflanze zufügt, wenn sie in wundervollen Farben und den herrlichsten Düften an ihrem Platz steht, und dann so einen Namen wie „Kopfiger Thymian“ oder „Kretischer Natternkopf“ bekommt?

Das kleine Schwefelkölbchen ist ein hervorragendes Wildgemüse, aber verginge Dir denn nicht auch der Appetit, wenn Du seine Blätter essen solltest, nur aufgrund seines Namens?

Die silbrig glänzenden Teppiche der plantago albicans sind ein schützenswerter Habitat, aber findest Du nicht auch, dass Weißlicher Wegerich gleich viel weniger schützenswert klingt? Es fehlt der deutschen Sprache doch nicht an Poesie, das haben Goethe, Schiller und die anderen ja hinlänglich bewiesen. Konnte sich da kein Botaniker mal inspirieren lassen?

Aber genug, mein Gemüt erhitzt sich über Gebühr. Lieber beschreibe ich Dir in Kürze noch die anderen beiden Stufen der Macchiabildung: die dritte Phase der Macchia stellen größere Büsche wie Myrte (diese jungfräulichen weißen Blüten! der herrliche Likör aus den schwarzen Beeren!), Mastix (wusstest Du, dass man ihn nicht nur in Klebstoffen, Ölfarben und Zahnfüllungen verwendet, sondern ihn auch Lebensmitteln zusetzt?), Kreuzdorn und Steinlinde dar.

Und zu guter Letzt siedeln sich, wenn man sie läßt, Steineiche, Erdbeerbaum und Johannisbrotbaum an. Dicht, immergrün, majestätisch schützen sie die niedrigeren Gewächse. Und wer weiß, vielleicht dürfen sie ja irgendwann wieder zu großen Wäldern zusammenwachsen, wie man sie vor tausenden Jahren in Apulien überall vorfinden konnte…

Ein Spaziergang für die Sinne

Als Freund und Kenner der Natur wirst Du Dir gut vorstellen können, wie abenteuerlich und aufregend es ist, sich gebückt und hobbitgleich einen Weg durch das dichte Unterholz zu suchen. Aber Achtung: Ein bisschen Zartgefühl braucht es bei so einem Spaziergang schon, denn Mäusedorn und Stechwinde gehen recht gerne auf Tuchfühlung, und auch am Stechginster kommt man nur mit Vorsicht unzerkratzt vorbei.

Aber genug! Ich möchte Dich keinesfalls langweilen mit meinen laienhaften Impressionen. Ich schließe nun mein Schreiben an Dich, lieber Freund und hoffe, wir werden uns nächsten April an eben diesem wunderschönen Ort persönlich treffen.

Zu gerne würde ich Dir die bezaubernde Wirkung eines silbergrünen Teppiches von plantago albicans zeigen, durchsetzt mit den leuchtenden, dunkelrosa Blüten des Süßklees (Hedysarum glomeratum) und den indigoblauen Blüten der Färber-Alkanna (Alcanna Tinctoria, auch Schminkwurz genannt), wenn sich stolz hier und da der Ästige Affodil (Asphodelus microcarpus) mit seinen weißen Blüten erhebt und mit leisem Rascheln Smaragdeidechsen über den Weg huschen …

Ein Rausch aus Farben und Düften, ich kann es nicht erwarten!

Auf ewig Deine

Katrin

PS: Wenn es Dir ernst ist mit einem Treffen und einer Führung in Torre Guaceto, dann gehe ins Netz. Öffne Thalassia. Hinterlasse eine Nachricht. Ich werde da sein – oder eine(r) meine(r) tollen Kollegen.

 

 

 

 

 

 

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